Issue #45 October 2021

Wilhelm Reich über Klassenbewusstsein und die freiwillige Knechtschaft

Cyril Power - The Exam Room (ca. 1934)

An English version of this text can be read here.

 

Wilhelm Reichs Was ist Klassenbewusstsein? ist ein Dokument. «Dokument» bezeichnet hier einen Text, der strikt einem spezifischen historischen Zeitpunkt zugehört, das heisst, nur in diesem Zeitpunkt verfasst werden konnte und daher ein Ausdruck dieses Zeitpunkts ist, insofern er die historische Situation als solche zu lesen und zu verstehen versucht. Die Situation, die Reich in diesem Text analysiert, ist das Scheitern der Arbeiterbewegung vor dem globalen Faschismus, aber auch das Zurückfallen der Sowjetunion in die Diktatur, also den Stalinismus:

«Die schwerwiegende Niederlage der sozialistischen Bewegung in Deutschland wirkt sich auch auf andere Länder bereits nachteilig aus und der Faschismus befindet sich gegenüber der revolutionären Bewegung überall im raschen Fortschritt; sowohl die II. wie auch die III. Internationale haben ihre Unfähigkeit bewiesen, die Situation auch nur theoretisch, vom praktischen ganz abgesehen, zu meistern.» (6)

Mit dem «überall» ordnet Reich auch den Stalinismus unter das Phänomen des Faschismus unter – später wird er vom «roten und schwarzen Faschismus» sprechen – doch es ist nicht der Faschismus selbst, der die Niederlage ausmacht; er ist vielmehr deren Konsequenz. Die Niederlage bezeichnet vielmehr das Ausfallen der sozialistischen Weltrevolution nach dem «Startschuss» von Oktober 1917, wie auch das gegenseitige Abschlachten der Proletarier im ersten Weltkrieg, anstatt dass sie sich gemeinsam gegen jene wendeten, die sie zur Schlachtbank führten; da es sich hierbei um eine «Fehlkalkulation» Lenins handelt, der selbst immer international dachte, wird sich Reich in diesem Text, wenn auch zumeist indirekt, kritisch mit dessen Denken auseinandersetzen und nach den Gründen für diese Enttäuschung suchen müssen.

Insofern muss diese Niederlage nicht nur verstanden werden, sondern dieses Verständnis muss auch als Impuls dienen, die Arbeiterbewegung wiederzubeleben und zu stärken, also dem Faschismus entgegenzuwirken – als der Text 1934 publiziert wurde die Hoffnung noch da, das Schlimmste zu verhindern. Darin knüpft Reich an die Tradition des Marxismus an; wie auch durch die verwendete Terminologie und die Praxis des «Lesens» der Geschichte, auch wenn er diese Praxis, wie wir sehen werden, grundlegend neu auslegt. Andererseits aber sieht er dieses Scheitern nicht als eine von aussen hereinstürzende Katastrophe, den Faschismus als «Konspiration» zum Beispiel, sondern sieht deren Gründe innerhalb der Arbeiterbewegung; nicht nur in den Parteien, die es nicht vermochten, die Massen zu «behalten» und zu mobilisieren, sondern in den Massen selbst, welche aus eigenem Willen nach «rechts» rutschten. Was ist Klassenbewusstsein? ist also nicht nur als Analyse einer historischen Situation zu verstehen, sondern allem voran als Selbstkritik der marxistischen Denktradition. Dies bedeutet, dass es sich beim Scheitern der Arbeiterbewegung nicht nur um «taktische» Fehler der Parteien handelt, auch nicht um einen «Verrat» Stalins an der Revolution, sondern um eine prinzipielle Blindheit dieses Denkens als solchem.

Diese Blindheit sieht Reich, und darin knüpft er an Lenin an, darin, dass der Marxismus als Wissenschaft es zwar verstand, den «objektiven Faktor» der Geschichte zu «lesen», das heisst die ökonomischen und sozialen Kräfte, die in der Gesellschaft am Werk sind, aber den «subjektiven Faktor» ausser Acht liess. Lenin selbst hat es zwar geschafft – wenn wir hier Reichs Auslegung folgen – die Massen Russlands zur Revolution zu führen, und aktivierte somit den «subjektiven», voluntaristischen Faktor, also den Willen der Massen nach Freiheit, jedoch kehrte auch dieses Revolutionär-sein in einen neuen Autoritarismus um, und vielleicht war Stalin von Anfang an in Lenin angelegt. Wenn Reich in diesem Text also oberflächlich an Lenin anknüpft und sich primär polemisch gegen die kommunistischen Parteien seiner Zeit wendet, so greift seine Kritik dennoch tiefer. Die Grundfragen für Reich in Was ist Klassenbewusstsein?, entsprechend seiner historischen Situation, sind also: Wieso kam die internationale Revolution nicht, obwohl die erste erfolgreiche sozialistische Revolution stattfand (die Möglichkeit der Revolution also bewiesen war)? Wieso hat der imperialistische Krieg und das Blutbad, das er anrichtete, die Menschen nicht zur Ablehnung jener Machtstrukturen gebracht, die sie zur Schlachtbank führten? Und wieso gab das eine Volk, das die Revolution erfolgreich durchführte und die Freiheit erlangte, diese Freiheit in so kurzer Zeit freiwillig wieder ab? Wieso hat die marxistisch-leninistische Theorie und Praxis es also nicht geschafft, die Massen aus der Ausbeutung herauszuführen und zur internationalen Revolution hinzuführen?

Diese grundlegende Selbstkritik ist aber nichts anderes als Reichs Weg, aus der Sackgasse herauszufinden, und daher die Arbeiterbewegung wiederzubeleben; so lautet der Untertitel des Textes auch «Ein Beitrag zur Diskussion über die Neuformierung der Arbeiterbewegung». Die Frage also nach den Bedingungen der Revolution, der Revolutionierung der Masse, stellt sich also bei ihm weiterhin, und insofern bleibt Reich ebenfalls der Perspektive des Marxismus treu, auch wenn er später dessen Terminologie, als zu eng aufgefasst, aufgibt. Der Marxismus als Freiheitsbewegung stellte sich nie eine andere Frage: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit der Revolution? Das heisst, was hält die Massen davon zurück, sich zu befreien? Wie kann man diese Bedingungen realisieren? Wie realisiert man die klassenlose Gesellschaft, in der niemand ausgebeutet wird, in der niemand über den anderen herrscht? Was ist Klassenbewusstsein? ist offensichtlich ein zu kurzer, zu programmatischer Text, um diese Fragen zu beantworten, und setzt sich auch nicht dieses Ziel; Ziel ist es vielmehr herauszufinden, wie, im Hinblick auf die historische Situation, diese Fragen neu gedacht werden können:

«Wir meinen, dass diese unglückseligen Misstände im Festhalten an alten, abgebrauchten, verknöcherten Sätzen, Worten, Schemen, Diskussionsarten liegt, und dieses Festhalten selbst aus dem Mangel neuer Fragestellungen, neuer Art zu denken, die Dinge ganz neu und primitiv anzuschauen liegt.» (7)

Die Frage nach der neuen Art zu denken muss tatsächlich radikal aufgefasst werden, denn sie wird uns im Folgenden nicht nur dazu führen, die grundlegenden Konzepte des Marxismus neu zu denken, sondern die Frage des (Klassen-)Bewusstseins von dem des Wissens zu trennen; dies wird uns zum «Grundproblem einer korrekten Psychologie» (17) führen, nämlich zur Frage nach der freiwilligen Knechtschaft, die die Spontaneität der Masse radikal in Frage stellt. Dieses «Grundproblem», welches wir im Folgenden erarbeiten werden, wird Reich sein ganzes Werk hindurch verfolgen und wird in Was ist Klassenbewusstsein? im Rahmen des Marxismus vorbereitet. Am anderen Ende dieser Hinterfragung steht die Bejahung der absoluten Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen, die insofern jenseits der Macht jeder revolutionären Führung oder Partei ist. Wenn der Leninismus also fehlschlug, und nicht einfach bloss «verraten» wurde, muss sich Reich gerade mit diesem auseinandersetzen und die Gründe für seinen Fehlschlag aufdecken. Dies wollen wir nun also nachverfolgen.

 

«Zweierlei Klassenbewusstsein»

Gleich zu Beginn des Textes unterscheidet Reich «zweierlei Klassenbewusstsein» (9) und differenziert dabei Masse und Führung. Dies klingt, wie das anonyme Vorwort der deutschen Ausgabe von 1972 bestätigt, wie ein leninistischer ‘Move’, und so zitiert Reich denn auch Lenins Passage aus Was tun?, wo dieser bestätigt, dass die Arbeiterklasse von selbst nur ein «tradeunionistisches Bewusstsein» erlangen kann und deshalb von der Partei von aussen zur Revolution gebracht werden müsse. Dies war Lenins Modifikation des Marxismus anhand seiner Relektüre der Geschichte, da gewisse historische Ereignisse, wie der imperialistische Krieg, im Rahmen des traditionellen Marxismus nicht verständlich waren. Reich scheint Lenin auch zu folgen, wenn er gleich anschliessend die Notwendigkeit der revolutionären Führung bejaht und in Bezug auf die Masse eher von «Vorstufen oder Elemente[n] dessen, was man Klassenbewusstsein oder revolutionäres Bewusstsein nennt» (10) spricht. Wenn er jedoch er von zweierlei Klassenbewusstsein spricht, so modifiziert auch er, ohne es explizit zu machen, Lenins Konzeption: Wo dieser im Grunde einen graduellen Unterschied sah zwischen dem Klassenbewusstsein des Revolutionärs und der Masse – die Masse habe «nicht genug» davon – auch wenn dafür ein «qualitativer Sprung» nötig ist, so stehen für Reich die beiden Arten des Klassenbewusstseins gleichberechtigt nebeneinander, als qualitativ und prinzipiell verschiedene.

Das Klassenbewusstsein der Führung konzipiert Reich dabei sehr ‘klassisch’ im Sinne «der genauen Kenntnis des objektiven historischen Prozesses» (13), also im Sinne eines Wissens. Es ist dieses Wissen, das den leninschen Revolutionär ermächtigt, die Masse zur Revolution zu führen, indem er die Geschichte und die objektiven Prozesse der Gegenwart liest. Da es sich um ein komplexes und spezialisiertes Wissen handelt, sieht sich Lenin berechtigt, die Massen von diesem Wissen, zumindest ab einem gewissen Grad, auszuschliessen, und Reich folgt ihm darin.1placeholder Es ist, in der Auffassung Lenins, gerade dieser Mangel an Wissen, welcher es verhindert, das die Masse genuin revolutionär wird und den Revolutionär wie auch die Partei notwendig macht; die Masse versteht es, ihre Interessen zu vertreten und bildet Gewerkschaften («tradeunionistisches Bewusstsein»), aber weil sie nicht sieht, dass sie weiterhin ausgebeutet wird, auch wenn es ihr temporär gut geht, drängt sie nicht zur Expropriation und zur Selbstverwaltung. Man berücksichtige aber, wie sehr dieses Motiv im Geiste der Aufklärung seit Kant und seinen «Gelehrten» steht, die das Wissen an das Volk heranzutragen haben, wobei dieses Wissen, wie es noch im heutigen Kult des Experten der Fall ist, nur einer Minderheit zukommt und weiterhin herablassende Konzeptionen der Masse, wie auch der Demokratie gegenüber hervorbringt. In dieser historischen Perspektive wird klar, wie radikal Reichs Bruch ist und inwieweit es ihn wiederum ermöglichen wird, wie wir sehen werden, die radikale Demokratie zu bejahen.

Cyril Power - Whence and Whither?, c. 1932

So schliesst dieser Mangel an Wissen für Reich die Masse nicht vom Klassenbewusstsein aus; dies spricht vielmehr dafür, dass die Masse (potenziell) ein anderes Klassenbewusstsein hat, das eben nicht auf dem Wissen um die «objektiven historischen Gesetze» basiert ist. Was ist jedoch das Prinzip dieses anderen Klassenbewusstseins? Was Reich neben dem Wissen als Prinzip, das zur Revolutionierung der Masse führen soll, ausschliesst, ist der «Hunger»2placeholder, das Leiden der Menschen, also eine instinktive oder intuitive Konzeption dieses Klassenbewusstseins, aber auch die «Freiheit»3placeholder, also gewisse Ideale oder eine Ethik, die zur Revolution führen sollten. Reich schliesst also einen wie auch immer gearteten «Instinkt der Masse zur Freiheit» aus, wie er in der Konzeption der Spontaneität der Masse verstanden wird; das Problem für Reich ist gerade, dass die Menschen die Freiheit, d.h. das Leben ohne Herrschaft und Unterdrückung, das Leben in voller Selbstverantwortung, nicht wollen. Wir müssen hier den prinzipiellen Unterschied zur Auffassung Lenins sehen. Lenin meint, dass die Masse die Revolution zwar will, aber nicht klar genug sieht (d.h. nicht genug Wissen besitzt), um diese Revolution zu realisieren. Reich meint nun dem gegenüber, dass, wenn die Masse die Revolution wollen soll – und das ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass es sich um eine genuine Revolution handelt, und nicht bloss um einen Putsch –, sie es nicht aufgrund eines Wissens um die «objektiven Gesetze» tun wird, sondern aus sich selbst heraus, aus dem Bedürfnis, das eigene Leben selbst zu gestalten. Wie kann Reich nun aber weiterhin an die Revolution glauben, wenn er sowohl ein Wissen der Masse, als auch einen Freiheitsinstinkt und Idealismus der Masse ablehnt?

«Der Inhalt des Klassenbewusstseins des revolutionären Führers ist nicht persönlicher Art; sofern persönliche Interessen (persönlicher Ehrgeiz u. ä.) mitvorhanden sind, wirken sie hemmend auf seine Tätigkeit. Dagegen ist das Klassenbewusstsein in den breiten Massen […] durchaus und durchwegs persönlicher Art.» (13)

«[Das Klassenbewusstsein in den breiten Massen] orientiert sich einzig und allein an den subjektiven Spiegelungen, Verankerungen, Auswirkungen dieses objektiven Geschehens in millionenfach verschiedenen kleinsten Alltagsfragen; sein Inhalt ist also das Interesse an Nahrung, Kleidung, Mode, familiären Beziehungen, den Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung im engsten Sinne, an den sexuellen Spielen und Vergnügungen im weiten Sinne, wie Kino, Theater, Schaubuden, Rummelparks und Tanz, ferner an den Schwierigkeiten der Kindererziehung, an Hausschmuck, an Länge und Gestaltung der Freizeit etc. etc.» (14)

Dieser Perspektivenwechsel hin auf die Alltagsfragen mag harmlos, vielleicht auch naiv und selbstverständlich erscheinen; doch wir müssen sehen, wie sehr er der Freiheitsbewegung tatsächlich neue Kategorien verleiht. Denn die Frage, ob eine Gruppe von Menschen frei ist, lässt sich in dieser Hinsicht nicht nur dadurch beantworten, ob sie «objektiv» ausgebeutet werden, sondern sie müssen ihre Freiheit in ihrem Alltag leben: «Nur durch den Kopf des Menschen, durch seinen Willen zur Arbeit und sein Sehnen nach Lebensglück, kurz seine psychische Existenz schaffen wir, konsumieren wir, verändern wir die Welt» (14). Es sind natürlich auch die Ausbeutungsverhältnisse die dies verhindern – Reich hält an der Überwindung des Kapitalismus fest – aber diese basieren selbst auf etwas anderem. Die Menschen ertragen die Ausbeutung nämlich nicht nur, weil sie um sie nicht Bescheid wissen (Mangel an Wissen) – ja, die Menschen wissen nur in den seltensten Fällen nicht, dass sie ausgebeutet werden – sondern weil sie diese Ausbeutung freiwillig hinnehmen. Und das Prinzip dessen ist das Entsagungsprinzip:

«Die politische Reaktion, Faschismus und Kirche an der Spitze, fordern von der arbeitenden Masse Entsagung an irdischem Glück, Zucht, Gehorsam, Entbehrung, Opfer für die Nation, das Volk, das Vaterland. […] Sie stützen sich dabei auf die Schuldgefühle der Massenindividuen, auf ihre anerzogene Bescheidenheit, auf ihre Neigung, Entbehrungen stumm und willig, manchmal auch selig zu tragen, auf der anderen Seite auf ihre Identifizierung mit dem glorreichen Führer, dessen «Liebe zum Volk» ihnen die reale Bedürfnisbefriedigung ersetzt. […] Wenn man die Masse der Bevölkerung gegen das Kapital ins Feld führen, ihr Klassenbewusstsein entwickeln, sie zur Auflehnung bringen will, erkennt man das Entsagungsprinzip als schädlich, ledern, blöde, reaktionär. Der Sozialismus behauptet doch, dass die Produktivkräfte der Gesellschaft weit genug entwickelt sind, um der breitesten Masse aller Länder ein dem Kulturniveau der Gesellschaft entsprechendes Leben zu sichern. Gegen das Entsagungsprinzip der politischen Reaktion ist das Prinzip des reichen Glücks auf Erden zu setzen.» (15)

Wir kommen hier also endlich zum Prinzip dieses «zweiten» Klassenbewusstseins der Masse, seinem Kriterium: die Masse ist nicht nur umso bewusster je mehr sie sich ein Wissen aneignet, sondern je mehr sie ihr eigenes irdisches Lebensglück realisieren will. Revolutionär ist die Masse also, wenn sie die Selbstverantwortung will, wenn sie das Recht in Anspruch nimmt, ihre Bedürfnisse befriedigen zu können; reaktionär ist sie, wenn ihre Lebensart auf dem Entsagungsprinzip basiert und sie eine asketische Lebensweise auf sich nimmt. Diese Entsagung basiert nicht auf objektiven biologischen oder ökonomischen Prozessen, wie es die Lehre des Mangels des Kapitalismus will, sondern sie entsteht immer im Hinblick auf eine Autorität – eine herrschende Klasse – die sich von diesem Entsagungsprinzip ausnimmt, also «dick und fett» (15) wird. Aus diesem Grund ist das Entsagungsprinzip an die Etablierung einer herrschenden Ordnung gebunden, während die Revolution gerade deren Auflösung intendiert. Das Problem ändert sich also fundamental: nicht mehr Lenins «wie bringe ich das Klassenbewusstsein an die Masse heran?», sondern «wie bringt man die Menschen dazu, das Entsagungsprinzip aufzugeben?» Gerade hier enthüllt sich die volle Bedeutung der neuen Perspektive auf die «Alltagsfragen», denn es ist dort, wo man die Keime der Auflehnung gegen das Entsagungsprinzip suchen muss. In dieser Auflehnung gegen die Entsagung und darin gegen jegliche Autorität, drückt sich die innere Kraft, das innere Leben des Einzelnen aus, denn selbstverantwortlich kann der Mensch nur sein, wenn er gewillt ist, aus sich selbst heraus seine Welt zu gestalten. Kurz, das neue Problem ist jenes der freiwilligen Knechtschaft:

«Wenn zwei Menschen, A und B, hungern, kann sich der eine fügen, nicht stehlen, und betteln oder verhungern; der andere jedoch kann sich eigenmächtig Nahrung verschaffen. Eine weite Schichte des Proletariats lebt nach den Prinzipien von B. Es wird «Lumpenproletariat» genannt. Wir teilen keineswegs die romantische Bewunderung für die Verbrecherwelt, aber die Sache erfordert Klarheit. Welcher der beiden früher genannten Typen hat mehr Elemente von Klassengefühl in sich? Stehlen ist noch kein Zeichen von Klassenbewusstsein; eine kurze Überlegung zeigt aber – trotz unseres inneren, moralischen Sträubens –, dass derjenige, der sich den Gesetzen nicht fügt und stiehlt, wenn er hungert, also noch Willen zum Leben äussert, mehr Energie zur Auflehnung in sich trägt, als derjenige, der sich stillschweigend auf die Schlachtbank des Kapitalismus legt. Wir halten daran fest, dass das Grundproblem einer korrekten Psychologie nicht das ist, weshalb ein Hungernder stiehlt, sondern gerade umgekehrt das, weshalb er nicht stiehlt.» (16f.)

«Als Elemente des Klassenbewusstseins kann alles angesehen werden, was der bürgerlichen Ordnung widerspricht, was Keime der Auflehnung enthält; als Hemmung des Klassenbewusstseins dagegen alles, was an die bürgerliche Ordnung bindet, sie stützt und festigt.» (17)4placeholder

«Konkrete Elemente» dieses Klassenbewusstseins erarbeitet Reich im nächsten Kapitel, an den Beispielen der Jugendlichen, der Kinder, der Frauen und der erwachsenen Männer. Was sich dabei verändert ist nicht nur die Perspektive, sondern auch die Methode. Nicht mehr geht es bloss darum, die objektiven Gesetze der Geschichte zu lesen, sondern im Alltag der Menschen zu prüfen, wo sie revolutionär und wo sie reaktionär gesinnt sind, es geht um die Politisierung des Privatlebens; die weitere Aufgabe besteht darin, die reaktionären Tendenzen aufzudecken, zu kritisieren und zur Auflösung zu bringen und die revolutionären Tendenzen zu entwickeln. Hierin sieht Reich denn auch die neue Aufgabe der revolutionären Führung.5placeholder Es ist jedoch an diesem Punkt klar, dass es sich dabei nicht um Konspiration geht, und dass die Figur, die Reich hier vorschwebt, eigentlich auch kein Revolutionär normalen Sinne ist. Wer diese Analyse und diese Entwicklung zu leisten vermag, ist vielmehr der Wissenschaftler, aber eben ein politisierter Wissenschaftler, der eine neue Methode anwendet. Denn der «Wissen»-schaftler sammelt nicht mehr Wissen – «Wissen» ist stets die Suche nach Gesetzen, wie der leninsche Revolutionär nach den Gesetzen der Geschichte sucht – sondern bleibt am Einzelfall haften, d.h. an der Alltagssituation des Einzelnen. Er abstrahiert nicht, sondern sucht in jedem «Fall» nach den gegensätzlichen Tendenzen, um daraus die revolutionäre zu entwickeln. Gewiss geht es auch dem Wissenschaftler darum, wie z.B. die Institution Familie das brave und gehorsame Individuum produziert, da es ja immer darum geht, den politischen Kern des Alltags herauszuarbeiten. Als Therapeut jedoch hält Reich am Einzelnen fest und dessen Tendenzen und seiner je einzigen Charakterstruktur. Wenn sich daraus Typen ergeben,6placeholder so weil die Reaktion die Einzigartigkeit des Einzelnen unterdrückt und stereotype Persönlichkeiten reproduziert, die einfacher zu kontrollieren sind. Das freie Individuum drückt sich hingegen dadurch, dass es seine Welt gestaltet, in seiner Einzigartigkeit aus. Auch als Schriftsteller präsentiert Reich nicht allgemeine Gesetze, sondern produziert Dokumente,7placeholder d.h. gerade Analysen seiner Zeit, die selbst  von inneren Widersprüchen durchzogen ist und, trotz ihrer augenscheinlichen Hoffnungslosigkeit, revolutionäre und reaktionäre Tendenzen aufweist. Der Wissenschaftler, sei es als Therapeut oder Schriftsteller, setzt also beim Einzelnen an, der nicht nur Produkt, sondern Produzent seiner auf Entsagung gründenden Wirklichkeit ist. Der Wissenschaftler interessiert sich für den «subjektiven Faktor»; und dieser gründet sich nicht auf dem Modell des Wissens, sondern der Analyse. Nur dadurch stellt sich die Wissenschaft auf die Seite der Freiheit, denn solange Wissenschaft bloss Wissen produziert – weil Wissen eben, wie Reich Lenin folgend bejaht, nur einer Minderheit zukommt – steht sie im Dienste einer Minderheit, die sich das Recht vornimmt, über andere zu bestimmen; sei es im Namen einer Partei oder von Experten.

Im Hinblick auf die «Neurosenprophylaxe»8placeholder ist klar, dass auf politischer Ebene weiterhin gegen die Ausbeutung gekämpft werden muss; und Reich macht auch klar, dass sein Fokus auf der Psychologie nicht den politischen Kampf ersetzt. Der Revolutionär produziert ein Wissen, indem er die Geschichte liest, ihre Gesetze studiert, aber dieses Wissen ist wirkungslos, solange er nicht die Ursachen für die freiwillige Knechtschaft der Menschen versteht; dafür braucht er den Wissenschaftler. Der Revolutionär versteht, wie die Ausbeutung produziert wird, aber nicht, wieso sie reproduziert wird, d.h. wieso die Menschen sie aus sich selbst heraus hervorbringen. Dafür braucht er den Wissenschaftler, der die revolutionären und die reaktionären Tendenzen im Einzelfall analysiert und verstehen lernt, wie die revolutionären Tendenzen entwickelt werden können, sodass die Masse die Angst vor der Freiheit überwinden kann.9placeholder

In dieser seiner Blindheit versteht der Revolutionär eben nicht, dass, auch wenn er die Masse an die Revolution heranzubringen vermag – wie Lenin es 1917 geschafft hat –, dies nicht garantiert, dass die Masse auch revolutionär bleibt, d.h. an ihrer Freiheit festhält. «Objektiv» hat die Oktoberrevolution die Ausbeutungsverhältnisse ausgeschaltet, aber «subjektiv» nicht das Bedürfnis nach Autorität. So ist es Reichs Erklärung für en Stalinismus, dass die Masse sich zwar vom Zarismus befreit hat, sich aber weiterhin vor dieser neu erlangten Freiheit fürchtete und sie sofort an den nächsten «Führer» abgab. Die Masse stürzte die Autorität und war darin revolutionär, doch sie gab das Entsagungsprinzip nicht auf. Die Machthaber perpetuieren dieses nämlich nicht äusserlich durch Gewalt – eine Gewalt, die Oktober ja vernichtet hat – sondern verinnerlicht durch Moral und Erziehung; und als verinnerlichtes kann das Entsagungsprinzip die Revolution überwintern und in der Figur Stalins wieder auftauchen. Es kommt dabei auch weder auf Lenin an, der vielleicht dennoch geheime Machtansprüche hatte, noch auf Stalin, der die Revolution verraten hätte; denn wenn die Menschen die Freiheit tatsächlich wollen, lassen sie diese von niemandem nehmen. Dies ist die radikal demokratische Perspektive Reichs, deren provokativen Charakter wir nicht unterschätzen dürfen.

Insofern bejaht Reich, dass es die Massen selbst waren, die Stalin wollten (wie sie auch in Deutschland Hitler wollten), und eben darin liegt das Grundproblem. Dies führt Reich aber nicht zu einem Defaitismus, sondern vielmehr zu einer präziseren Analyse des Phänomens des (roten und schwarzen) Faschismus. Der Faschismus drückt für ihn nämlich nicht nur das Festhalten am Entsagungsprinzip aus – das Bedürfnis nach einem «Führer» – sondern allem voran in seinem emotionalen Impuls auch eine revolutionäre Tendenz. Auch der Faschismus ist für Reich in diesem Sinne kein Problem des «Wissens» – die Massen wurden von Hitler und Stalin nicht getäuscht – sondern er ist Ausdruck gerade dieser Ambivalenz, die sich im Alltagsleben der Menschen ausdrückt. Der Faschismus ist daher durchzogen von einer inneren Widersprüchlichkeit. Sehen wir uns deshalb den Faschismus, wie ihn Reich versteht, etwas näher an.

Cyril Power - The Tube Train (1934)

Die innere Widersprüchlichkeit des Faschismus

«[Man] sah im Faschismus nur seine reaktionäre Funktion, nicht aber die revolutionären Energien in seiner Massenbasis und verlor dadurch die Schlacht.» (48)

Die faschistischen Massen sind tatsächlich nicht revolutionär, weil sie sich einem Führer unterwerfen, aber sie sind dennoch irgendwie revolutionär, weil sie zugleich antikapitalistisch und antiautoritär gesinnt sind und sich gegen einen «Herren» auflehnen, der sie vorgeblich weit mehr unterdrückt als der Führer.10placeholder Das revolutionäre Potential der Massen Nazideutschlands war gerade, dass sie sich Hitler unterwarfen, um einen weit bösartigeren Herren zu bekämpfen: den «Kapitalisten», in Gestalt des Juden. Wieso setzt der Nationalsozialismus den Kapitalisten mit dem Juden gleich? Besser: Wieso ersetzte er den Kapitalisten mit dem Juden? Die faschistischen Massen sind antikapitalistisch gesinnt, aber sie gehen nicht gegen den Kapitalismus vor, warum? Weil der Faschist die Massen scheinbar täuscht: er behauptet, jemand ganz anderes wäre «die Kapitalisten»; nämlich gar nicht die Kapitalisten selbst, sondern die Juden und deren globale Konspiration. Das Täuschungsmanöver des Faschismus lautet also: indem die Masse den Juden bekämpfe, bekämpfe sie den Kapitalismus. Dies ist was Reich in Die Massenpsychologie des Faschismus den Mystizismus nennt. Der Faschismus nutzt also die revolutionäre Energie der Masse, die in der Wut gegen die Ausbeutung entsteht, für die ärgste reaktionäre Politik aus. Um den «Kapitalisten» zu bekämpfen, muss die Masse sich aber dem Faschisten unterwerfen, dem Führer. Denn der Führer muss nicht nur die Macht haben, die «Kapitalisten» zu vernichten, sondern auch das «Wissen», sie zu identifizieren (hier wieder die Ambivalenz des Wissens). In dieser Hinsicht ist die Ideologie des Faschismus radikal antikapitalistisch gesinnt. Aber dieser «Kapitalist» ist eben nicht der Kapitalist. Deshalb bedroht der Faschismus den Kapitalismus zugleich eben nicht. Die Klasse der Kapitalisten kann weiterhin die herrschende Klasse bleiben und ihr Geld z.B. mit der Rüstungsindustrie verdienen, sie kann die Proletarier weiterhin in den imperialistischen Krieg schicken.

Der Faschismus ist insofern die erste «instinktive» Antwort des Kapitalismus, um die Revolution zu verhindern, um die revolutionäre Masse reaktionär zu machen und dadurch zu bändigen. Die herrschende Klasse, die Bourgeoisie, muss die Revolution abwehren; deshalb akzeptiert sie den Faschismus, um sich selbst zu retten, damit es zwar einen Krieg gebe, aber keinen Bürgerkrieg. Dies ist aber noch ein Verständnis des Faschismus als «Konspiration»; nicht des «Juden», sondern der Kapitalistenklasse. Für Reich reicht diese Erklärung aber nicht hin. Hitler und seine Sturmtruppen wären armselige Schläger geblieben, hätte die Masse sie nicht zur Herrschaft gebracht. Deshalb reicht die «Täuschung» als Erklärung nicht aus, auch wenn sie als Methode des Faschismus, der, wie auch die bürgerliche Politik, da sie beide von Widersprüchen durchzogen sind, immer mystifizieren muss, wichtig ist.11placeholder

Wir müssen uns also fragen: Wie hätte der Faschismus das Volk täuschen können, als es ihm den Juden statt den Kapitalisten vorsetzte? Die Pogrome statt der Expropriation? Weil das Volk sich täuschen lassen wollte. Gewiss konnte niemand ernsthaft denken, dass der Jude, der neben einem in der Fabrik schuftet, nebenbei an einem weltweiten Komplott beteiligt ist. Das Volk wusste, als es den Juden vernichtete, dass es nicht den Kapitalisten stürzte; denn wieso kam all das Geld und Gold der Juden nicht beim deutschen Volk an? Wieso wurden die Juden vernichtet, aber das Volk dadurch nicht frei? Wieso muss man die «Kapitalisten» vernichten, wenn man sie einfach expropriieren könnte? Es lag im Prinzip keine Täuschung vor.

Das Problem war, dass falls das deutsche Volk mit den Nazis seine tatsächlichen «Herren», also die Kapitalistenklasse, gestürzt hätte, falls die Nazis also tatsächlich die «nationale Freiheit» realisiert hätten, es am Volk gelegen hätte, seine Selbstverantwortung und seine Freiheit zu realisieren. Das Volk fürchtete sich aber vor der Freiheit, es hatte Lustangst. Deshalb war es vorzuziehen, den Juden loszuwerden, anstatt den Kapitalisten. Denn dadurch musste man nichts verändern, man konnte gleich unfrei bleiben und geführt werden (wie zuvor vom Kaiser), und die herrschende Klasse konnte weiterhin regieren. Gleichzeitig aber war das Volk wütend, denn es wurde von den Kapitalisten ausgebeutet. Darin die grundlegend antikapitalistische Haltung des Faschismus: das Volk weiss, dass es ausgebeutet wird und es leidet darunter, es pocht auf Veränderung. Zugleich aber würde Veränderung radikal Freiheit bedeuten, und Freiheit Selbstverantwortung. Wir sehen also, wie ernst Reich es mit den Konzepten der Angst vor der Freiheit und der Lustangst meint; es ist immer die Furcht vor der radikalen Selbstverantwortung, die die Menschen in die Sklaverei treibt.12placeholder Es ist in diesem Sinne nicht der «grosse» Hitler, der den Faschismus schafft, sondern der kleine Mann. Aber wir müssen uns davor hüten, uns selbst von der Masse auszuschliessen. Wie Reich sagt, in uns allen steckt ein kleiner Mann; wenn wir behaupten, dass nur «die anderen» ihre Freiheit nicht verwirklichen wollen, drücken wir uns selbst vor unserer radikalen Selbstverantwortlichkeit. Jedes Mal, wenn wir die Schuld weitergeben, drücken wir unsere eigenen reaktionären Tendenzen aus. Wir alle tragen einen inneren Faschisten in uns.

Die Widersprüchlichkeit des Faschismus besteht darin, dass das ausgebeutete Volk auf Veränderung pocht und zugleich sich gegen jegliche Veränderung sträubt und die krasseste Reaktion vorzieht. Diese Reaktion vermag es, die Wutimpulse in Hassimpulse zu verwandeln; eine Ökonomie, die dem im Widerspruch verfangenen Volk zumindest vorübergehend passt. Denn als Hass kann es seine Wut rauslassen, indem es aktiv vernichtet, aber dennoch nicht seine herrschende Klasse berührt. Auf die Gefahr hin, dass diese eskalierende Gewalt den Faschismus nicht zur Implosion führt. Deshalb bevorzugt der Kapitalismus heutzutage andere Methoden, wenn er auch die innere Widersprüchlichkeit, die ihm nicht weniger als dem Faschismus eigen ist, nicht auflösen kann. Die kapitalistische Ausbeutung führt zu Wut, die, falls sie nicht in Veränderungen auslaufen soll, abgelenkt werden muss. Aus diesem Grund kann der Kapitalismus sich vom Gespenst des Faschismus nicht befreien, der sich nicht nur in Gestalt von rechtem Populismus in Erscheinung tritt, sondern in jedem Fall von ‘Veränderung ohne Veränderung’. Kapitalismus und Faschismus basieren beide auf dem Entsagungsprinzip, das die Funktion hat, die Frustration der Ausbeutung zu schwächen, die äusserliche Gewalt zu verinnerlichen, die Wut gegen die Autorität in Wut gegen Ungehorsam und Anderssein zu verwandeln; die Kritik dieses Prinzips bleibt daher die zentrale Aufgabe einer auf Freiheit gerichteten politischen Analyse.

Timofei Gerber has an MA in philosophy from the University of Heidelberg, Germany, and an MA in film studies from the University of Zurich. He is currently writing his PhD at Paris 1 Sorbonne. He is also a co-founder and co-editor of this magazine.

Works Cited

Reich, Wlhelm. Was ist Klassenbewusstsein? Ein Beitrag zur Diskussion üebr die Neuformierung der Arbeiterbewegung. Arbeitstexte Verlag O Hamburg, 1972.

11

«Niemals kann es im Kapitalismus gelingen, die breite Masse, die den Aufstand und die Revolution durchzuführen hat, mit diesem hochspezifischen Wissen zu erfüllen, durch keinerlei Mittel der Propaganda.» (12)

22

«Man muss klar sehen, dass der Hunger allein für sich, wenn er nicht demoralisiert, eher den verschiedenen bürgerlichen Wohltätigkeitsorganisationen in die Arme treibt.» (21)

33

«Wodurch unterscheidet sich die sozialistische Freiheit von der nationalen, die Hitler verspricht?» (11) fragt Reich rhetorisch.

44

Es ist diese Passage, auf die sich Deleuze und Guattari in Anti-Oedipus beziehen, wobei sie Reich darin folgen, die freiwillige Knechtschaft als Grundproblem anzusehen.

55

«Lenin lehrte mit Recht, dass sich der Revolutionär auf allen Lebensgebieten zurechtfinden muss. Wir müssen dies dahin noch präzisieren, dass er aus jedem Lebensgebiet die spezielle revolutionäre Tendenz herausentwickeln können muss.» (50f.)

66

Dazu vgl. Reichs Charakteranalyse.

77

Man beachte hier Reichs immer sehr persönliche und erzählerische Stil, der, wenn nicht explizit in der historischen Situation, so in der persönlichen Situation Reichs verankert ist, wodurch er also selbst zum «Einzelfall» wird. Im Gegensatz zu Lenin produziert Reich ja gerade kein Wissen, sondern Analysen, wenn auch beide ihre je eigene historische Situation zu lesen und zu verstehen versuchen.

88

Reich beharrt im Verlauf seines ganzen Werks darauf, dass die Neurosenprophylaxe ein fundamentales Ziel ist, dass man also als Therapeut nicht nur im Einzelfall Neurosen heilen soll, sondern im Bereich des Politischen jene Kräfte und Tendenzen ausschalten soll, die die Neurosen erst hervorbringen.

99

Hier kommt das wichtige Konzept der Lustangst ins Spiel, das Reich allem voran in der Charakteranalyse erarbeitet.

1010

Die folgende Analyse folgt nicht streng Reich, der in Was ist Klassenbewusstsein? den Faschismus nicht analysiert, basiert aber auf Prinzipien, die er hier und in Die Massenpsychologie des Faschismus erarbeitet, d.h. den «Widersprüche[n] zwischen Revolutionärem und Reaktionärem innerhalb des Faschismus, die in seiner Ideologie zu einer Einheit zusammengefasst waren» (47).

1111

Vgl. ein Beispiel, das Reich anführt: «S. A.-Leute ermordeten auf bestialische Weise einen polnischen Arbeiter und wurden zum Tode verurteilt. Hitler trat laut für sie ein. Den Hintergrund dieser Geste Hitlers bildete in Wirklichkeit die Abfuhr, die er kurz vorher von Hindenburg erfahren hatte, als er von diesem die Reichskanzlerschaft forderte. Hitler spielte seine Massenbasis auf, als seine feudalen Verbindungen versagten.

Die Masse durchschaute in keiner Weise das Spiel, das mit ihr getrieben wurde. Sie fühlte sich von Hitler vielmehr in nationalsozialistischer Identifizierung «verstanden». […] Hätten die Kommunisten in breiter Agitation die Zusammenhänge zwischen der Absage Hindenburgs an Hitler mit Hitlers Appell an das Massengefühl enthüllt, die Wirkung wäre nicht ausgeblieben.» (38)

1212

Vgl. hierzu die Rede an den Kleinen Mann von 1948: „Du willst Führung und Ratschlag, kleiner Mann. Du hattest Führung und Ratschlag durch die Jahrtausende, guten wie bösen. Es lag nicht an den bösen Ratschlägen, sondern an deiner Kleinlichkeit, dass du noch immer im Elend bist.“ (119f.)

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